Abendschaum
Die U-Bahn ist gut gefüllt und ich voll beladen mit Posaune und Taschen. Doch da ist noch ein Vierer frei! Super, warum sitzt da denn keiner? Oh…. Die beiden Fensterplätze sind frei aber die Plätze am Gang und auch der Boden sind dicht an dicht mit weißen Schaumhauben vollgerotzt. Wer macht denn sowas? Gegenüber ist noch ein Platz frei. Ich arrangiere mich tetrismäßig auf die 40 Quadratzentimeter und bin gespannt, wer meinem Schicksal folgen wird. An der nächsten Haltestelle steigen zwei Görls ein, Typ-Instaready. „Ey komm hier!“ „Boah, Iiiiiiih, wie krank!“ Sie entscheiden sich für Stehplätze. Es scheint eine spannende Fahrt zu werden. Als Nächstes trifft es ein Ehepaar um die 60. Man sieht es förmlich in ihnen arbeiten als sie die Lage überblicken: Stehen oder auf den beiden unbesudelten Plätzen Platz nehmen. Er entscheidet und sie nehmen wortlos Platz, stoisch die Schweinerei ignorierend. Beim Aussteigen zertrampeln sie beiläufig ein paar der Spuckefützchen und hinterlassen ein interessantes Muster auf dem Boden. Zwei jugendliche Halbstarke betreten schwungvoll die Bahn. Ihre streng nach hinten gegeelten Haare und eckigen Bewegungen lassen vermuten, dass Ihnen, so wie den meisten Jugendlichen, nur Coolnes und Wut als emotionale Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Der vordere analysiert knapp die Lage des Vierers: „Da und da nicht hinsetzen!“ „Was ist das?“ „Save Bier.“ Sie lassen sich auf die Fensterplätze fallen. Ich bin gespannt, wie lange sie brauchen, um zu realisieren dass es sich nicht save um Bier handelt. 3… 2… 1… „ALTER, WIE GEHT DENN DAS ÜBERHAUPT???“ „EINFACH UNNORMAL!“ Stille. Thema abgehakt. Sie verlassen die Bahn und eine angeschwipste Vierergruppe alternder Hipsterinnen Typ Linden-YOLO streben Richtung Vierer. Die Chefin sieht sofort was los ist und schirmt die anderen ab: „Wir können hier nicht sitzen!“ „Aber…“ „Wir KÖNNEN hier nicht sitzen.“ Die anderen waren einfach noch nicht bereit für die Wahrheit und es gelingt ihr sie vor dieser harten Realität zu beschützen. „Ey nachher noch Party bei Raquel. Wir hören wieder die Mugge vom letzten Mal!“ „Nein!“, entfährt es der Chefin, „Wenn ihr diese sexistische Dreckscheisse anmacht, bin ich raus!“ Zwei der vier beginnen Lindy Hop Schritte zu üben, ein älterer Fahrgast sitzt betreten daneben und versucht den bunten Dr. Martens auszuweichen. Die Kleinen Pfützen bewegen sich langsam vorwärts auf ihrer Reise Richtung Mitte der Plastik-Sitzmulde. Bald ist Weihnachten.
Hannover, 21.11.2019